Psychoanalytisch orientierte Psychotherapie online im onkologischen Kontext

Eugene Riaboshtan (Master of Psychology, Université Côte d'Azur)
Eine Krebserkrankung ist nicht nur eine medizinische Diagnose, sondern auch eine existenzielle Krise, die alle Ebenen des menschlichen Daseins betrifft: die körperliche, emotionale, soziale und symbolische. Patient:innen und ihre Angehörigen sind nicht nur mit Schmerz und Angst konfrontiert, sondern auch mit existenzieller Ungewissheit, einem gestörten Körperbild und dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. In diesem Kontext wächst der Bedarf an professioneller psychotherapeutischer Unterstützung, die zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer ganzheitlichen Versorgung wird.
Die Entwicklung der Online-Beratung hat neue Möglichkeiten für solche Unterstützungsformen eröffnet – besonders dort, wo die physische Mobilität eingeschränkt ist oder wo es schwierig ist, eine:n Spezialist:in mit dem erforderlichen Profil zu finden. Besonders bedeutsam wird hier die psychoanalytische Therapie, die sich auf die Arbeit mit dem Unbewussten, dem Übertragungsprozess und tiefen inneren Konflikten konzentriert, die sich im Kontext einer schweren Erkrankung verschärfen.
Der psychoanalytische Ansatz: Was er in onkologischen Krisen leistet
Die Psychoanalyse bietet einen Raum, in dem Gefühle, Ängste und Fantasien erforscht werden können, ohne dass sie sofort „gelöst“ werden müssen. Eine Krebsdiagnose aktiviert mächtige unbewusste Prozesse: Todesangst, den Verlust von Grenzen, das Erleben des Körpers als zerstört sowie regressive Tendenzen. In solchen Zuständen kann es passieren, dass die Betroffenen den Kontakt zu sich selbst, zu ihren Angehörigen und zur Realität verlieren.
Eine der schmerzhaftesten Folgen einer Krebserkrankung ist die Störung des Körperbildes und der symbolischen Bedeutung des Körpers. Der Verlust einer Brust, von Haaren oder Hautpartien sowie das Entstehen von Narben können das Selbstbild, das Gefühl von Attraktivität und die Zugehörigkeit zum Weiblichen oder Männlichen tief erschüttern. Der Körper, der einst als Ausdruck von Leben, Schönheit oder Sexualität wahrgenommen wurde, wird nun zum Erinnerungszeichen an Krankheit, Schmerz und Verletzlichkeit. Diese Veränderungen führen oft zu einer Entfremdung vom eigenen Körper, zu Schamgefühlen und einem Verlust der Sprache, mit der Sexualität oder Attraktivität thematisiert werden könnte. So wird die Körperlichkeit zum Träger nicht nur physischer, sondern auch symbolischer Verluste – ein zentrales Thema für die therapeutische Arbeit.
Die Krankheit betrifft nicht nur das physische, sondern auch das symbolische Gefüge: die gewohnte Ordnung von Bedeutungen, Rollen und Identitäten. Aus einer „Mutter“, einem „Experten“ oder einer „geliebten Partnerin“ wird plötzlich „die Krebspatientin“ oder „Stadium N“ – ein Etikett, das alle anderen sozialen und persönlichen Definitionen verdrängt. Der Tod, der zu einer realen Möglichkeit wird, bedroht nicht nur den Körper, sondern auch das symbolische Dasein: die Angst, vergessen zu werden, noch während man lebt, keine Spuren zu hinterlassen, aus dem Gedächtnis der anderen zu verschwinden, aus dem Bedeutungssystem herauszufallen. Die Betroffenen stoßen häufig auf „Leerstellen“, Schlaflosigkeit und Somatisierungen, wo Worte nicht mehr ausreichen.
Die Aufgabe des Psychoanalytikers ist es nicht, zu trösten oder abzulenken, sondern in der Angst, der Aggression und dem Gefühl der Hilflosigkeit präsent zu bleiben. Durch das Aushalten dieser Zustände und ihre Symbolisierung wird eine innere Neuordnung möglich. Die Patient:innen finden neue Haltpunkte und lernen, mit der Krankheit zu leben, ohne daran innerlich zu zerbrechen.
Die Therapie hilft, die Krankheit wieder in Sprache zu fassen, sie in Signifikanten zu transformieren, die es den Betroffenen ermöglichen, weiterzuleben und den Kampf gegen die Krankheit fortzusetzen.
Klassische psychoanalytische Schriften über die Bedeutung von Übertragung, Regression und primären Objekten in Krisensituationen erhalten im onkologischen Kontext besondere Aktualität.
Die Rolle der Angehörigen
Auch die Angehörigen erleben einen Verlust an Orientierung. Oft wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen, und greifen, um ihre eigene Angst zu bewältigen, zu Abwehrmechanismen: Verleugnung der Krankheit, Vermeidung von Gesprächen, übermäßige Rationalisierung oder Überfürsorglichkeit. Dies kann den inneren Konflikt der Patient:innen verstärken, die die Ernsthaftigkeit ihrer Lage deutlich spüren, aber keine explizite, emotional validierende Unterstützung erfahren. Auch das weitere soziale Umfeld – Kolleg:innen, Nachbar:innen, Bekannte – zieht sich häufig zurück, verunsichert darüber, wie es reagieren soll. Dies verstärkt die Isolation und das Gefühl des sozialen Bedeutungsverlusts.
Psychoanalytische Therapie wird so nicht nur für die Patient:innen selbst, sondern auch für deren Angehörige relevant – für diejenigen, die täglich anwesend sind, pflegen, versuchen „stark zu bleiben“, dabei aber im Schatten der Diagnose stehen. Angehörige leiden häufig unter chronischem Stress, unterdrückter Wut, Schuldgefühlen, Angst und einer völligen Neubewertung ihrer Rolle innerhalb der Familie. Die Pflege wird zur schweren Last, die kaum Raum für eigene Gefühle lässt – diese müssen unterdrückt, eingefroren oder hinter einer Maske aus „Stärke“ und „Rationalität“ verborgen werden.
Besonders stark ist dies bei erwachsenen Kindern spürbar, die ihre kranken Eltern pflegen. Oft müssen sie gleichzeitig ihr eigenes Leben, ihre Karriere und ihre Familie managen und zusätzlich physische und emotionale Verantwortung für die nun verletzlichen Eltern übernehmen. Ihre innere Dynamik ist von Konflikten geprägt: Liebe und Wut, Mitgefühl und Gereiztheit, Angst und Erschöpfung existieren nebeneinander und lösen starke Ambivalenzen und Schuldgefühle aus.
Ähnliches gilt für Partner:innen, die nicht nur unterstützen, sondern auch Intimität, Grenzen und die gemeinsame Zukunft neu denken müssen. Mitunter wird nicht nur der Alltagsrhythmus gestört, sondern auch die tiefsten symbolischen Grundlagen der Beziehung – Sexualität, Fürsorge, das Bild der „richtigen Familie“.
Der therapeutische Raum ermöglicht es diesen Menschen nicht nur, „sich auszusprechen“, sondern vor allem die Komplexität ihrer Gefühle anzuerkennen, ihren Platz im neuen System zu begreifen und die Unmöglichkeit vollständiger Kontrolle zu akzeptieren. Diese Arbeit hilft ihnen, sich in der Fürsorge nicht selbst zu verlieren, ihre emotionale Lebendigkeit und Empathie zu bewahren und manchmal sogar die Beziehung zu retten. So entsteht ein stabileres und reiferes Unterstützungssystem, in dem jede:r das Recht auf eigene Erfahrungen hat.
Online-Beratung: Ein neuer Zugang zur Unterstützung
Die COVID-19-Pandemie hat die Haltung der Gesellschaft zu Online-Interaktionen grundlegend verändert. Was zuvor als unmöglich oder unethisch galt, wurde zur neuen Norm: Bildung, Arbeit, Medizin – und Psychotherapie – sind massenhaft ins Digitale gewandert. Dieser Wandel hat nicht nur die Vorstellung von Möglichkeiten erweitert, sondern auch neue Zugänge für jene geschaffen, die zuvor aus objektiven Gründen vom therapeutischen Raum ausgeschlossen waren.
Für Krebspatient:innen und ihre Familien wurde das Online-Format zu einem echten Durchbruch. Häufige Klinikbesuche, ein geschwächtes Immunsystem und Nebenwirkungen von Chemo- oder Strahlentherapie machen Offline-Termine physisch unmöglich oder extrem belastend. Online-Beratungen reduzieren die körperliche Belastung, ermöglichen regelmäßigen Kontakt und passen sich flexibel dem Befinden der Patient:innen an.
Darüber hinaus beseitigt das Remote-Format viele Barrieren, die eine Teilnahme an der Psychotherapie bislang erschwerten. Patient:innen, die aggressive Behandlungen durchlaufen, schämen sich oft für ihr Aussehen: Haarausfall, Hautveränderungen, Schwellungen. Schon allein die Notwendigkeit, „sich zu zeigen“, kann Angst und Scham hervorrufen. Das Online-Setting schafft ein Gefühl der Sicherheit – die Möglichkeit, im eigenen Zimmer, in bequemer Kleidung und ohne das Haus zu verlassen am therapeutischen Prozess teilzunehmen.
Online-Therapie ist auch eine Rettung für pflegende Angehörige – Kinder, Partner:innen, Verwandte. Diese Menschen jonglieren häufig zwischen Pflege, Beruf und Haushaltsaufgaben und finden kaum Zeit oder Kraft für regelmäßige Therapiesitzungen. Die Möglichkeit, sich von zu Hause oder in einer Arbeitspause zuzuschalten, ohne stundenlange Wege und Wartezeiten, macht psychoanalytische Unterstützung realistisch und erreichbar. So können sie ihre eigene Stabilität, emotionale Ressourcen und Fürsorgefähigkeit bewahren, ohne innerlich zu zerbrechen.
Online-Beratung ist also nicht nur praktisch – sie bricht das Klischee von der Unzugänglichkeit der Psychotherapie für Krebspatient:innen und deren Umfeld. Sie ermöglicht das, was früher undenkbar schien: regelmäßige, qualitativ hochwertige und inhaltlich tiefe therapeutische Arbeit unter Bedingungen extremer physischer und emotionaler Verletzlichkeit. Wird die Bedeutung psycho-emotionaler Begleitung auch in onkologische Behandlungskonzepte integriert, könnte ein solcher synchronisierter Ansatz zu einem neuen Standard der ganzheitlichen Versorgung werden.
Ein Online-Raum für psychoanalytische Unterstützung: Horizonterweiterung der Hilfe
All diese Aspekte – von der Verschärfung innerer Konflikte durch die Krebsdiagnose bis zur Überlastung der Familienangehörigen, von der Scham über den eigenen Körper bis zur Unmöglichkeit, Offline-Sitzungen wahrzunehmen – führen zur Notwendigkeit eines systematischen, zugänglichen und feinfühligen Ansatzes für psychotherapeutische Unterstützung. In der heutigen Zeit kann dies in Form eines spezialisierten Online-Raums geschehen, der thematisch und inhaltlich das gesamte Spektrum psychoanalytischer Hilfe im onkologischen Kontext abdeckt.
Es geht dabei nicht nur um eine Plattform, sondern um einen Raum – flexibel, offen und im ständigen Wandel. Sein Kern besteht darin, Bedingungen zu schaffen, in denen psychoanalytische Therapie und verwandte Unterstützungsangebote für schwer Erkrankte und ihre Angehörigen zugänglich und sinnvoll werden.
Ein solcher Raum könnte Folgendes umfassen:
· Regelmäßige Online-Beratungen mit Spezialist:innen (Psychoanalytiker:innen, Kunsttherapeut:innen, klinischen Psycholog:innen)
· Ein Archiv von Videovorträgen und Seminaren zu Themen wie Krankheitsbewältigung, Verlust, Schuldgefühle, Ambivalenz, körperliche Veränderungen, Eltern-Kind-Dynamiken bei Krankheit u. a.
· Schulungsmaterialien für Fachkräfte, die mit Krebspatient:innen arbeiten, einschließlich Ärzt:innen, Pflegekräften, Sozialarbeiter:innen
· Unterstützende Formate für pflegende Angehörige: Gruppen, Vorträge, individuelle Sitzungen
· Forschungs- und klinische Texte in populärwissenschaftlicher Form, die den Teilnehmer:innen intellektuelle Haltpunkte und Verständnis für ihre emotionalen Zustände bieten
Dieser Raum ist nicht nur dazu da, zu „heilen“, sondern um beim Durchhalten zu helfen, zuzuhören und das Selbstsein zu bewahren. Er kann zu einem „dritten Ort“ zwischen medizinischen Einrichtungen und dem privaten Umfeld werden – einem Ort, an dem individuelle Stimmen gehört werden, an dem weder Angst verborgen noch „Stärke gespielt“ werden muss.
Das Online-Format macht diesen Raum besonders flexibel und inklusiv: Man kann sich aus dem Krankenhausbett, von zu Hause oder dem Arbeitsplatz zuschalten. So wird Isolation vermieden und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer menschlichen, denkenden und fühlenden Gemeinschaft wiederhergestellt.
Die Schaffung eines solchen Raums ist nicht nur ein technologisches oder therapeutisches Projekt. Es ist eine ethische Entscheidung für das Leben – ein Leben, in dem die leidende Person eine Stimme, Präsenz und Unterstützung hat.
Onkologie erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Die medizinische Behandlung ist entscheidend, aber nicht ausreichend. Psychoanalytische Therapie ist keine Alternative, sondern eine notwendige Ergänzung, die den Menschen hilft, ihre innere Integrität, Würde und die Fähigkeit zum Leben – selbst angesichts einer tödlichen Bedrohung – zu bewahren.
Online-Räume machen diese Therapie zugänglich, flexibel und personalisiert. Die Einbindung von Psychoanalytiker:innen und Kunsttherapeut:innen in die onkologische Versorgung ist nicht nur eine humanistische Aufgabe, sondern auch eine strategische Investition in die Lebensqualität und die Wirksamkeit der Medizin selbst.
Dieser Ansatz verdient institutionelle, finanzielle und forschungsbezogene Unterstützung. Stiftungen könnten beispielsweise gezielt Therapien in solchen Räumen finanzieren und so nachhaltige Versorgungsmodelle ermöglichen.
Literatur
Psychoanalyse
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